Polarkreis verlassen

Ein Tag, der zum Träumen verleitet und Sehnsüchte weckt, auch oder gerade weil so gar nichts los ist

Ralf

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Heute ist mal wirklich ein langweiliger Tag. Ein farbloses Grau in Grau. Die Wolken hängen so tief, man muss Angst haben, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt.

Am Morgen haben wir den Polarkreis erneut überquert. Ich befinde mich jetzt also nicht mehr im Nordpolargebiet. Was sofort auffällt ist, das so gut wie kein Schnee mehr liegt. Die karge Pflanzenwelt auf den grauen Hügeln zu meiner Linken wechselt seine Farben zwischen einem Dunkelbraun, Ocker und fahlem Grün auf Schiefer- und Granitgestein. Dazu ein dreistufig grauer Himmel, das graue Meer und der Regen. Nach all dem bisher erlebten ein eher trister Ausblick.

An Bord geht das Leben seinen gewohnten Gang. Drei Mahlzeiten am Tag, gelegentliche Stops in kleineren und größeren Häfen und gelegentlich Bordaktivitäten. Das Lunch lasse ich in den letzten Tagen öfters sausen, damit ich es nicht zu schnell einem Hefekuchen gleich tue. Für heute Abend steht das große Abschiedsessen auf dem Programm. Warum eigentlich heute Abend und nicht morgen? Na ja, ich nehme mal an, dass morgen alle mit Koffer packen beschäftigt sind und deshalb für eine Abschiedszeremonie nicht die richtige Muße haben. Ich für meinen Teil geh’s gelassen an und lass mich einfach überraschen.

Die Aufenthalte in den Häfen mit so unbekannten Namen wie Nesna, Sandnessjøn, Brønnøysund und Rørvik sind meist recht kurz. Selbst bei einer Stunde Aufenthalt bleibt kaum Zeit für Erkundungen. Wenn man die Zeit für das notwendige Aus- und Wiedereinchecken abzieht, bleibt nur noch eine gute halbe Stunde übrig. Was will man da sehen?

Die Bordaktivitäten interessieren mich meist weniger. Heute wurde eine kleine Zeremonie zum erneuten Überqueren des Polarkreises durchgeführt. Massenauflauf! Also nichts für mich. Am Nachmittag gibt es einen Hurtigruten Werbefilm über die Reise „Explore Antarctika“. Mal sehen, wenn mich die Langeweile zu sehr packen sollte? Ich glaub’s aber nicht, denn ich finde es immer noch gut, am Fenster im Salon zu sitzen und den Blick nach draußen schweifen zu lassen. Kaffee und Tee ist nicht fern und der Ausblick, sei er manchmal auch noch so trist, ist doch immer noch etwas Besonderes.

Dabei schaue ich aus dem Steuerbord gelegenen Salon auf der Rückfahrt in Richtung offenes Meer. Die freie Sicht wird immer wieder durch mehr oder weniger hohe und große wilde Inseln und Inselgrüppchen begrenzt. Teils liege die Kuppen in den tiefen hängenden Wolken, teils zeigen sie sich mit einem Rest von Schnee bedeckt. Dann immer wieder Weite in Grau. Das lädt zum Tagträumen ein. Eine Stimmung, aus der die Märchen über Trolle und andere Fabelwesen entstanden sein mögen. Und so langsam wird mir klar, wie sehr ich diese Landschaft und Ruhe eigentlich genieße und schätze. Eigentlich will ich nicht, dass das schon so bald zu Ende ist. Eigentlich möchte ich hierbleiben und träumen …